Die Chinesen entdecken das Reisen – und werden weltweit umworben. Wie präsentiert sich Deutschland den neuen Touristen? Höflich gesagt: nun ja. Eine Woche unterwegs mit einer chinesischen Reisegruppe zwischen Berlin und Zugspitze.
Berlin-Tegel, acht Uhr früh, grauer Himmel. »Ist das Smog?«, fragt Frau Tian auf dem Rollfeld, sie trägt eine dünne, mit Kirschen gemusterte Jacke. Ihr Mann schaut nach oben. »Nein, nur schlechtes Wetter«, beruhige ich beide. Es ist Ende Januar, wir sind gerade mit einer Lufthansa-Maschine, aus Shanghai kommend, gelandet. Ich habe – wie Frau Tian, ihr Mann und vier weitere Ehepaare, die zur neuen chinesischen Mittelschicht gehören – das All-Inclusive-Paket »Elf Tage unbeschwertes Deutschland« gebucht, für 2600 Euro pro Person. In der Broschüre verspricht der Veranstalter ein »Tiefenerlebnis auf Vier-Sterne-Niveau«. Das Erste, was meiner Reisegruppe auffällt, ist, wie klein der Hauptstadtflughafen einer europäischen Großmacht ist.
Auf dem Parkplatz wartet Zoltan, der Busfahrer, ein freundlicher Familienvater aus Budapest, der seit 28 Jahren Touristen durch Europa fährt – früher Japaner und Amerikaner, jetzt vor allem Chinesen. »Nihao!«, grüßt Zoltan und wuchtet unsere Koffer in den Stauraum eines blitzblank geputzten Mercedes. Der Bus hat Platz für 52 Leute, wir sind nur zu elft. Warum die Gruppe so klein ist, frage ich. Elf Tage nur durch Deutschland, das sei eben, na ja, keine naheliegende Wahl, erklärt Yang, der Reiseleiter. Dann pustet er ins Mikrofon. »Könnt ihr mich hören?« Yang Huaiyong, vierzig Jahre, sieht aus, wie Chinesen sich Japaner vorstellen: dunkelorange gefärbte Haare, knallgrüne Hose, ein »US Route 67«-Aufnäher auf dem Rücken seiner Jacke. Er stammt aus Peking und lebt seit zwölf Jahren in Dortmund.
Am Fenster ziehen Siebzigerjahre-Bauten, Fahrschulen und Spielotheken vorbei. Charlottenburg sieht aus, als wäre alles vor drei Jahrzehnten stehen geblieben: »Moderne Häuser, wie wir sie von zu Hause kennen, werdet ihr hier natürlich kaum sehen. Ihr müsst berücksichtigen: Berlin hat gerade mal 3,5 Millionen Einwohner«, referiert der Reiseleiter. Großes Gekicher in den Sitzreihen. So lautet das Programm: Heute Hauptstadt, morgen Potsdam, Dresden, danach Bamberg, Nürnberg, Neuschwanstein, Zugspitze, München, Metzingen, Stuttgart, Heidelberg, Köln, Rückflug über Frankfurt. Vor uns liegt eine Strecke von 2404 Kilometern.
Zum ersten Mal reise ich als Touristin durch Deutschland: Ich wurde in der südchinesischen Provinz Hunan geboren, als Fünfjährige bin ich mit meinen Eltern nach Deutschland gezogen. Nach der Schulzeit in Freiburg habe ich in München studiert und dort anschließend als Journalistin gearbeitet. Seit 2011 lebe ich in Shanghai.
Herr Yang, der Reiseleiter, zieht einen Schnellhefter mit Vortragsmanuskripten hervor, auf denen er Stichpunkte zu Themen wie »Gesellschaft«, »Verkehr« und »Geschichte des Biers« notiert hat: »Es kann leicht passieren, dass ihr später keine Ahnung mehr habt, wo ihr überall gewesen seid«, sagt er und empfiehlt, in jeder Stadt zuerst einen Kanaldeckel mit eingraviertem Ortsnamen abzufotografieren – als Erinnerungshilfe. Sofern man sich an die Gesetze halte, sei Deutschland ein sehr freies Land, meint er, ein Land, das »mehr Steuereinnahmen für Soziales ausgibt als für Waffen« und »aus Umweltschutzgründen seine Industrie ins Ausland verlagert, zu uns zum Beispiel«. Aus materiellen Gütern mache sich das Volk nicht viel, dafür liebe es lange Urlaube, Autofahrer hupten nur selten (»Das ist hier wie schimpfen«). Außerdem seien Deutsche außergewöhnlich erfindungsreich, wie die Zahl der Patente und Nobelpreisträger beweise: »Aber sie sind sehr langsam im Kopfrechnen. Nehmt es bitte mit Geduld, wenn es an der Supermarktkasse länger dauert.» Besonders auf zwei Dinge möchte Herr Yang uns vorbereiten: »Freies WLAN gibt es so gut wie nirgendwo« – kollektives »Ooooh« – und das Essen, »ich sag’s mal so: Da sind Deutsche eher schlicht. Ihr solltet für die nächsten Tage eure Ansprüche herunterschrauben.« Bis auf wenige Ausnahmen stehen ausschließlich China-Restaurants auf dem Reiseplan.
Für die meisten ist es nicht die erste Europareise: Frau Tian und ihr Mann, ein Hochhausarchitekt, haben erst vergangenes Jahr den Klassiker chinesischer Gruppenreisen gebucht: Frankreich-Schweiz-Italien. Seit ihr 25-jähriger Sohn aus dem Haus ist und in Japan studiert, haben beide Zeit. »Wir wären früher nach Deutschland gekommen, wenn man uns gelassen hätte«, sagt eine Reihe hinter ihr ein Mann, der Yang heißt, wie der Reiseleiter. Deutschland stelle hohe Hürden für Reisende aus China auf: Das Konsulat in Shanghai verlangt die Kontoauszüge der letzten sechs Monate, Antragsteller müssen Ersparnisse in Höhe von 6000 Euro vorweisen, weitere 6000 Euro werden bis zur Rückkehr einbehalten. Und der Reiseleiter muss nach dem Rückflug alle Bordkarten einschicken – damit soll sichergestellt werden, dass sich niemand aus dem Staub macht. Diesmal hat es bei Yang Haibo geklappt. Yang, fünfzig, bezeichnet sich als Deutschland-Fan, seit er vor zwanzig Jahren seine Karriere bei der nordchinesischen Niederlassung eines Tübinger Maschinenbauers begonnen hat. Heute führt er seine eigene Firma, verkauft tonnenschwere Anlagen für die Ölindustrie nach Indien, in die Türkei, den Irak, und er fährt BMW.
Ihm gegenüber sitzt ein Paar Mitte zwanzig, das identische Sweatshirts mit der Aufschrift »I am lonely« trägt. Chen Shaoling, Abteilungsleiterin bei einer Marketingagentur, ist mit ihrem Mann, einem App-Vermarkter, auf Flitterwochen. Sie mag Deutschland, seit Miroslav Klose bei der WM 2002 gegen Saudi-Arabien drei Tore schoss. Er interessiert sich für Weltkriege, I und II. Pflichtbewusst filmt der frisch Verheiratete die Tour zur Siegessäule mit, für die Eltern, die Schwiegereltern. Dann: Brandenburger Tor. Reichstag. Checkpoint Charlie. Mauer. Pro Stopp werden 30 Minuten Freilauf gewährt. Viele wollen schon nach einer Viertelstunde wieder in den warmen Mercedes.
Deutschland sei das Japan Europas, erklärt der Reiseleiter, als wir am Holocaust-Mahnmal vorbeikommen, und: »Unter den Stelen liegen die Urnen der ermordeten Juden.« Bis heute seien Wissenschaftler »unschlüssig darüber, warum Hitler die Juden umgebracht hat«, fährt Yang reichlich unpräzise fort. Immerhin haben die Deutschen ihre Fehler eingestanden, sagt Frau Tian beeindruckt. Die Gruppe nickt. Als wir das »Holiday Inn« im Spandauer Industriegebiet erreichen, ist es erst 19 Uhr. »Das deutsche Arbeitsgesetz mag uns übertrieben streng vorkommen, aber Zoltan darf nicht länger als zwölf Stunden pro Tag am Steuer sitzen«, sagt der Reiseleiter Yang. Er verteilt Zimmerkarten und sagt seinen Gute-Nacht-Spruch: »6.45 Uhr: Weckruf. 7 Uhr: Frühstück. 7.55 Uhr: Koffer einladen. 8 Uhr: Abfahrt. Seid pünktlich!«
Am nächsten Vormittag treffen wir vor Schloss Sanssouci eine andere chinesische Reisegruppe, die sechs Länder in zehn Tagen bereist: Polen, Deutschland, Tschechien, Slowakei, Österreich, Ungarn. Neuschwanstein sehen sie nur von außen. »Von einem galoppierenden Pferd aus Blumen betrachten«, nennt man in China diese Art des Reisens. Immer mehr Chinesen wollen es entspannter angehen, erzählt der Reiseleiter. Unser elftägiges Tiefenerlebnis-Paket liege im Trend. »Theoretisch hätten wir uns auf eigene Faust auf den Weg machen können«, sagt Feng Jun, 35, Immobiliengutachter, der die Backpacker-Mädchen aus dem Westen bewundert, die allein durch China stiefeln. »Aber wir sind nicht so überlebensfähig wie die Europäer. Unsere Eltern haben uns zu sehr verhätschelt.« Vielleicht beim nächsten Mal, tröstet ihn seine Frau.
Dass Chinesen überhaupt aus Abenteuerlust ins Ausland reisen, ist vergleichsweise neu. »Solange deine Eltern leben, sollst du nicht in die Ferne reisen«, mahnte Konfuzius 500 Jahre vor Christus. Ein anderes altes Sprichwort lautet: »Du kannst tausend Tage zu Hause in Frieden leben oder aus der Tür treten und umgehend Scherereien bekommen.« In der Ming-Dynastie im 15. Jahrhundert, baute der damalige Kaiser die größte Flotte der Welt – weiter als nach Afrika kam sie nicht. Im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts flohen chinesische Auswanderer vor Hunger und Gewalt auf andere Kontinente. Dann sperrte Mao sein Volk ein. Erst Anfang der Neunziger begann die kommunistische Partei zaghaft, Freizeitreisen ins Ausland zu erlauben. Zunächst nur nach Hongkong, Macau und Südostasien. 2004 gab die Regierung grünes Licht für Europa. Heute ist China Reiseweltmeister. Im vergangenen Jahr reisten 97 Millionen von ihnen ins Ausland und gaben 75 Milliarden Euro aus, so viel wie keine andere Nation. Die Credit Suisse schätzt, dass die Zahl der fernreisenden Chinesen sich bis 2020 auf 200 Millionen verdoppeln wird – konservativ veranschlagt. Die Regierung in Peking fördert Auslandsreisen inzwischen ganz bewusst. Die Bevölkerung soll weltoffener werden – das ist gut für die Exportwirtschaft, da immer mehr chinesische Firmen auf den Weltmarkt drängen. Zum anderen sind reisende Chinesen ein Symbol. Mit ihnen zeigt China: Wir sind groß und stark. Wir sind nette Leute, die viel Geld bei euch ausgeben.
»Chinesen sind angenehme Gäste«, sagt der Rezeptionist in Garmisch-Partenkirchen im »Haus Hammersbach«. »Die haben keine hohen Ansprüche, gehen um 20 Uhr aufs Zimmer und geben morgens um sieben den Schlüssel ab. Es wäre nur schön, wenn sie länger als eine Nacht blieben.« Am nächsten Morgen besteigen wir um acht Uhr den Bus. Der fünfte Tag beginnt. Die Gruppe hat fleißig Bilder von der Semperoper, dem Nürnberger Justizpalast, Neuschwanstein und der Zugspitze geschossen und ins Internet gestellt. Die Daheimgebliebenen sehen Ritterrüstungen und Verbotsschilder, Wurstteller auf rotkarierten Tischdecken, einen Siebzigerjahre-Mercedes, den sie nur aus Filmen kannten. Deutschland sieht auf ihren Bildern nach Puppenhaus aus. »Jedes Haus ist anders«, sagt Frau Zhiying begeistert, »so viele Epochen, Stile, Farben!« Frau Tian, die Dame mit den Kirschen auf der Jacke, hat fränkisches Rauchbier probiert, die Ruhe und die frische Luft genossen. Aber sie hat sich auch über dieses Land gewundert: »Warum kaufen die wohlhabenden Deutschen in Ein-Euro-Läden ein?«, fragt sie mich. Und warum hiesige China-Restaurants, die »Kaiserpagode« oder »Asia-Star« heißen, Sushi, Götterspeise und Pommes servieren, versteht sie nicht. Über das schlechte chinesische Essen in Deutschland diskutiert die Reisegruppe jeden Abend, an dem sie laut Reiseplan in ein China-Restaurant einkehrt. »Was müssen die Deutschen von uns denken, wenn sie so etwas essen?«, fragt Frau Tian.
Es naht eines der Highlights auf unserem Programm: die Münchner Fußgängerzone. Frau Tian und ihr Mann haben eine Einkaufsliste vorbereitet, auf dem Zettel steht »WMF«, »Leica«, »Rimowa« und »Aptamil Milchpulver«, das soll sie für eine Bekannte mit Baby mitbringen. »Wir werden wandelnde Portemonnaies genannt«, warnt der Reiseleiter auf der Autobahn nach München. Er hat böse Geschichten erlebt: Gestalten, die vor dem Eiffelturm mit Pfefferspray hinter Büschen lauern und Chinesen die Einkaufstüten wegreißen; Diebe, die über die Lüftungsanlage in Hotelzimmer steigen, wie in Florenz; Räuber mit vorgehaltener Pistole, passiert in Neapel. Vergangenes Jahr wurden der französischen Polizei so viele Überfälle auf chinesische Besucher gemeldet, dass Präsident Hollande bei einem Besuch in Peking Staatsoberhaupt Xi Jinping zusichern musste, mehr Polizisten durch Touristengegenden patrouillieren zu lassen. Deutschland sei ungefährlicher, versichert der Reiseleiter. Bei deutschen Dieben sei die Chance groß, dass »sie nur die Scheine nehmen und ihr den Geldbeutel in einem Mülleimer findet«.
Der erste Laden, den wir in München ansteuern, nennt sich »German Style«, ein von Chinesen geführter Duty-Free-Shop am Isartor. Dort kann man Markentöpfe und Nahrungsergänzungspillen wie Fischöl, Isoflavon und Kollagen kaufen – sehr gefragt, seit die chinesischen Lebensmittelskandale nicht abreißen. »Bei Chinesen kaufe ich nicht«, winkt Frau Tian ab. In den Luxusgeschäften der Maximilianstraße sowie in der »Outletcity« in Metzingen am nächsten Tag, stehen chinesische Verkäufer bereit. In Metzingen gibt es eine Rabattaktion anlässlich des chinesischen Frühlingsfests. Fan Zhiying wuchtet nach drei Stunden Einkauf vollgepackte Tüten mit Kleidung von Burberry, Prada und Boss in den Bus. Fan ist 31 und arbeitet in einer Unternehmensberatung. Sie hat gerade 2000 Euro ausgegeben, mehr als ein Monatsgehalt. Allein in Shanghai stehen fünf Prada- und fünf Boss-Filialen, aber in China kommt auf den Preis eine Luxussteuer von bis zu vierzig Prozent obendrauf. Frau Fan macht es jedes Jahr so: sparen, verreisen, shoppen. Europa ist für sie permanenter Schlussverkauf. Die chinesische Regierung möchte den Binnenkonsum ankurbeln, das Volk gibt sein Geld lieber im Ausland aus. In Metzingen ist der Umsatz chinesischer Besucher 2013 um 60 Prozent gestiegen.
Seit das weltweite Geschäft mit Besuchern aus China boomt, ist der 57-jährige Sinologieprofessor Wolfgang Georg Arlt ein gefragter Mann. Vor zehn Jahren gründete Arlt in Schleswig-Holstein das Forschungsinstitut für China-Tourismus COTRI. Inzwischen reist er fast pausenlos durch die Welt und schult Tourismusbehörden und Unternehmen darin, wie man kaufkräftige Besucher aus der Volksrepublik anlockt. Von Ägypten über Mauritius bis Zypern gebe es kaum noch ein Land der Welt, sagt Arlt, das sich nicht ins Zeug legt: In Südkorea locken Hochzeitsveranstalter chinesische Paare mit bombastischen »Gangnam Style«-Zeremonien. Eine australische Küstenstadt baut für 380 Millionen Euro einen China-Freizeitpark inklusive Nachbau der Verbotenen Stadt. Kasachstan eröffnet Skigebiete nur für Chinesen. Auch das krisengebeutelte Europa hofft auf chinesisches Touristengeld: Griechenland plant Direktflüge zwischen Peking und Athen. Für Frankreich, Italien und Spanien sind chinesische Besucher eine milliardenschwere Konjunkturstütze. Insbesondere die Luxusindustrie profitiert: Nach Berechnungen der Welttourismusorganisation tragen chinesische Touristen ein Viertel des weltweiten Umsatzes von Luxuskonzernen wie LVMH bei. In Deutschland geben Chinesen im Schnitt 610 Euro für Einkäufe aus – mehr als Russen und Araber und doppelt so viel wie andere Nicht-EU-Touristen. Daimler gab Mitte Januar die Gründung von »Mercedes-Benz Travel« bekannt. Die neue Firma wird Fünf-Sterne-Reisen nach Europa anbieten – ausschließlich auf dem chinesischen Markt.
Shopping ist der einzige Luxus, den sich alle in meiner Gruppe leisten. Unsere Kettenhotels haben vier Sterne, liegen aber weit abgelegen in verschlafenen Vororten. In Nürnberg müssen wir wegen der Spielzeugmesse fast hundert Kilometer bis Ingolstadt ausweichen. Für Gruppenmahlzeiten hat der Veranstalter maximal zehn Euro pro Person vorgesehen. Als ich den Reiseleiter nach dem Widerspruch zwischen Prada-Tasche und All-You-Can-Eat-Buffet frage, sagt er: Der Wettbewerb unter chinesischen Reiseagenturen sei gnadenlos. Wenige seien bereit, mehr für eine Pauschalreise auszugeben als nötig. Lieber führten sie daheim neu erworbene Trophäen vor. »Sleep cheap, shop expensive«, sage man in der Branche.
Wir reisen durch Deutschland wie in einer Blase. Unsere Welt besteht aus Autobahnraststätten und Souvenirläden. Ständig begegnen wir anderen Gruppen aus China. An manchen Orten wirkt Deutschland wie eine unbewohnte Filmkulisse: Im Münchner »Hofbräuhaus« serviert man uns Schweinshaxen und jedem ein Glas Weißbier in einem menschenleeren Festsaal, in dem man glaubt, sein eigenes Echo zu hören. Im Saal ist Platz für etwa tausend Gäste. Wir sind 13 inklusive Fotograf. Dass der bierselige bajuwarische Maßkrugwahnsinn im Erdgeschoss unter uns tobt, hätten Frau Tian und die anderen nicht erfahren, wenn ich es ihnen nicht erzählt hätte. Weil es chinesische Gruppen eilig haben, müssen sie im zweiten Stock essen, erklärt die Kellnerin entschuldigend, nur dort kann man reservieren. Nach exakt dreißig Minuten verlassen wir das Hofbräuhaus wieder.
Wir übernachten im »Feringapark Hotel« im Münchner Vorort Unterföhring, in der Früh weist uns eine grantige Bedienung den halogenbeleuchteten »Gruppenfrühstücksraum« zu, der Kaffee in den Kannen ist lauwarm. Nur der Fotograf wird in den getäfelten Saal für »Individualfrühstücker« gebeten, wo spürbar besser gelauntes Personal in Wohnstuben-Atmosphäre laktosefreie Milch anbietet. Chinesische Reisegruppen haben keinen Zutritt.
»Zum Spaßhaben gibt es sicher bessere Länder«, sagt der Tourismusforscher Wolfgang Georg Arlt. Deutschland sei unter Chinesen bislang nicht als erstklassiges Urlaubsziel identifiziert. Zwar steigt die Zahl der Besucher aus der Volksrepublik steil an: 2012 betrug sie 820 000, dreimal so viel wie neun Jahre zuvor. Zieht man aber die vielen Geschäftsreisenden ab, liegt Deutschland weit abgeschlagen hinter der Schweiz und Tschechien. Hinter Frankreich, Italien und Spanien sowieso. Wolfgang Georg Arlt, der sagt, er halte sogar in Jamaika und Brasilien mehr Vorträge als in Deutschland, sieht es so: »Einen Großteil der deutschen Tourismusindustrie interessiert es nicht, was Chinesen wollen. Viele Deutsche wollen, dass der Kunde sich dem Verkäufer anpasst. Nicht umgekehrt.« Dabei schlummere hierzulande großes Potenzial: »Viele Chinesen halten uns für eine Autofabrik mit angeschlossenem Fachwerkhaus. Einmal hier, sind die meisten überrascht, wie viel Natur und Geschichte wir zu bieten haben.« Die Deutschen müssten sich nur besser verkaufen. So könne der Nürnberger Christkindlesmarkt zum Beispiel zweistündige Kurse zum Grillen von Rostbratwürsten auf Chinesisch anbieten, auf DVD gebrannt, dazu eine Bratwurstmeister-
Urkunde. Andere Länder seien in Sachen Marketing deutlich weiter. Chinesische Fernsehsender und Reissuppe am Morgen gehören in vielen französischen Hotels längst zum Standard. In Großbritannien schnüren Veranstalter maßgeschneiderte Ferienpakete mit Englisch-Unterricht für die Kleinen und Tennisstunden für die Erwachsenen. Kanada und die Schweiz bilden chinesische Skilehrer aus und laden chinesische Blogger ein, um ihre Reiseziele bekannter zu machen. Dass sich die Tourismusbranche hierzulande bislang wenig Mühe gibt, hat womöglich einen einfachen Grund: Den Deutschen geht’s noch zu gut.
Die Einheimischen? Sind professionell und überwiegend zuvorkommend, finden die Teilnehmer meiner Gruppe. Herzlich? Das weniger. »Wir haben nicht viel Zeit«, räumt Frau Tian ein, da sei es natürlich schwer, viel über den Alltag der Deutschen zu erfahren. Die einzige Deutsche, der sie wirklich näherkommen, bin ich. »Wurdest du als Kind diskriminiert, weil du asiatisch aussiehst?«, fragen sie. »Wie funktioniert euer Schulsystem?«, »Kaufen deutsche Eltern ihren Kindern zur Hochzeit auch eine Wohnung?« Ich erkläre ihnen, was auf Protestschildern steht, die iranische Exildissidenten vor dem Brandburger Tor hochhalten; was eine Bettlerin sagt, die in Köln vor uns niederkniet; warum am Münchner Marienplatz, als wir das Glockenspiel anschauen, Rechtspopulisten skandieren: »Keine Moschee am Stachus!«
»So was gibt’s bei uns nicht«, flüstert neben mir Li, eine ältere Frau. »Doch, in Peking. 1989 sind sie auch auf die Straße gegangen«, erwidert ihr Mann. »Unsere Regierung würde das nicht erlauben.« Die frisch verheiratete Chen Shaoling sagt mir während den langen Stunden im Bus: »Wenn ich im Detail wüsste, was in Europa alles besser läuft, würde ich nicht nach China zurückwollen.« Frau Tian, die in einem armen Bergdorf aufgewachsen ist, führt heute ein komfortables Leben in Shanghai und doch ist sie chinamüde: »In China fragt sich jeder: Wie viel verdient mein Nachbar? Welche Beziehungen hat er?« In Deutschland, findet sie, strahlen die Menschen Ruhe aus. »Hier sieht sogar der Bahnschaffner zufrieden aus.« Fan, die Unternehmensberaterin, ist gerührt, wie die Deutschen nach dem Krieg ihre Kirchen und Burgen wiederaufgebaut haben: »Wir Chinesen zerstören unsere Kulturstätten.«
Ich hätte der Reisegruppe gerne mehr von dem Deutschland gezeigt, das ich liebe: Nachmittags Grillen in den Isarauen, abends durch Kreuzberg schlendern. Chinesen gehen gerne abends aus, aber die Dreißig-Minuten-Taktung des Reiseplans lässt es nicht zu. Anfangs erzähle ich im Bus noch, wo die wirklich spannenden Ecken von Berlin sind, die, die wir nicht sehen – aber dem Reiseleiter scheint das zu missfallen: Ich würde allen doch nur das Gefühl geben, das Beste zu verpassen.
Frankfurt, der letzte Tag der Reise. Viele haben noch SMS mit Einkaufswünschen von Verwandten und Freunden erhalten. Um halb zehn warten wir in der schicken Goethestraße darauf, dass sich die Türen von Tod’s, Chanel und Hermès öffnen. Zwei Stunden später machen die Reisenden im Restaurant Kassensturz. Frau Tian und ihr Mann haben die langersehnte Leica-Kamera gekauft, Herr Yang, der Maschinenbauer, hat sich eine Limited-Edition-Uhr von Lange & Söhne für 19 400 Euro gegönnt. Das Flitterwochenpaar schiebt drei neue Rimowa-Köfferchen neben sich her, als würde es sich um Kinderwagen mit Neugeborenen handeln. Meine zehn Mitstreiter haben am Ende abzüglich Mehrwertsteuer knapp 50 000 Euro ausgegeben haben – nur für Shopping. »Das ist noch gar nichts«, feixt der Reiseleiter, der schon größere Einkaufsorgien erlebt hat. Reihum glückliche Gesichter. Die Jüngeren tätscheln ihre Tüten, als seien sie auf Drogen. Nur Frau Tian, die Dame mit den Kirschen auf der Jacke, schaut etwas betrübt. Sie zeigt mir ihre neue Tasche von Coach und einen neuen Staubsauger-Roboter. Auf den Etiketts steht »Made in China«.