Seit einem Jahr lebt der chinesische Künstler Ai Weiwei in Berlin. Einst war er Deutschlands Lieblingsdissident. Und jetzt? Die Geschichte einer gegenseitigen Enttäuschung.
Erschienen am 11. August 2016 im SZ Magazin
Nirgendwo hat man den chinesischen Künstler und Dissidenten Ai Weiwei so geliebt, verehrt, gefeiert wie in Deutschland. Die Nachricht seiner Verhaftung im Jahr 2011 schaffte es in die Hauptnachrichten, Angela Merkel setzte sich persönlich für seine Freilassung ein, Prominente sammelten Unterschriften. Er vertrat Deutschland auf der Biennale in Venedig, seine Ausstellungen in München und Berlin brachen Publikumsrekorde.
In den vier Jahren, in denen er China nicht verlassen durfte, waren die Deutschen und er wie ein auseinandergerissenes Liebespaar: getrennt erst durch eine Gefängnismauer und schließlich durch ein jahrelanges Ringen um seinen Reisepass. Es war eine symbiotische Fernbeziehung: Die Deutschen gaben ihm eine Bühne, er gab ihnen eine überlebensgroße Sehnsuchtsfigur, einen Ersatz-Dalai-Lama.
Und dann? War er endlich da. Ende Juli 2015 bekam Ai Weiwei seinen Reisepass wieder. Seither lebt er in Berlin. Und nichts ist mehr wie zuvor: kein Happy End, stattdessen Verwunderung, Häme, Kritik. Auf einmal sagte er Sätze wie: »Ein paar Leute festzunehmen ist doch keine große Sache.« Oder: »Die chinesischen Behörden bewegen sich nicht mehr außerhalb des Gesetzes.« War er altersmilde geworden? Ist er einen Deal mit dem Regime eingegangen?
Dann sein plötzliches Engagement für Flüchtlinge: Erst stellte er am Strand von Lesbos das berühmte Bild des toten Flüchtlingsjungen Aylan Kurdi nach. Später karrte er auf Idomeni einen weißen Klavierflügel ins Zeltlager und ließ sich von einem Syrer vor laufenden Kameras die Haare schneiden. Kunstaktionen auf Kosten von Kriegsopfern? Billiger Schrei nach Aufmerksamkeit? War ihm langweilig?
Alles ein Missverständnis? Und wenn er nicht mehr der Lieblingschinese der Deutschen ist, wer ist Ai Weiwei dann?
An einem Tag Ende Mai erscheint Ai Weiwei um kurz vor neun vor seinem Studio in Prenzlauer Berg. Man erkennt ihn schon aus hundert Metern an der stämmigen Statur und dem schleichenden Gang, dazu trägt er seine Alltagsuniform aus ausgewählter Nichtkleidung: mausgraues Kurzarmhemd, schwarze Leinenhose, Stoffschlappen.
»Sinoview Properties« steht in winziger Schrift über dem Briefkastenschlitz einer schwarzen Eisentür geschrieben, der Name von Ais deutscher Firma. Dahinter führt eine steile Stahltreppe zehn Meter in die Tiefe eines katakombenartigen Kellerreichs. Ai hatte den 4800 Quadratmeter großen Brauereikeller bereits vor seiner Verhaftung angemietet und renovieren lassen. Der Plan war, zwischen Peking, New York und Berlin zu pendeln. Schon 2010 wurde ihm an der Universität der Künste eine Gastprofessur angeboten. Dann kam bekanntlich alles anders. Inzwischen hat er die Stelle angetreten. Ist er nicht unterwegs, vergräbt er sich in Berlin die meiste Zeit unter Tage. Richtig angekommen fühlt er sich aber nicht in Deutschland. »Wenn die Professur nicht wäre, würde ich vielleicht woanders leben.«